Ich habe keine Filter. Ich kann Dinge nicht in den Hintergrund rücken. Eindrücke ausblenden. Bei mir ist alles gleich laut abgemischt, und es fällt mir schwer, mich auf eine Sache zu konzentrieren. Ständig ist alles da und intensiv. Eindrücke und Gefühle ballern mich rund um die viel zu laut tickende Uhr zu, mit allem, was sie haben. Keine Filter. Gespräche am Nebentisch sind kein Gemurmel, sondern ringen darum, mitgehört und verarbeitet zu werden.
Hochsensibel nennt man das.

Entspann dich mal“ sagt sie, während es nach Apfelkuchen und Hund riecht, am Nebentisch versucht jemand, ganz heimlich zu popeln, am Tisch daneben fragt man sich, ob noch ein Bier getrunken werden soll, daneben kickert jemand und winkt seiner Freundin zu, Lou Reed ist grad in der zweiten Strophe von „Take a walk on the wild side“ angekommen, draußen prasselt der Regen gegen die große Glasfront an, während der Mann hinter dem Tresen Gläser spült und gleichzeitig versucht, nicht allzu offensichtlich auf die nette Dame, die vor ihm sitzt, zu schielen, außerdem juckt mein Knöchel und das Parfüm, was mein Gegenüber da trägt hat etwas von Vanille, aber mit noch irgendetwas dabei, was mir grad ums verrecken nicht einfallen mag, und so wie sie grad mit ihren Armen fuchtelt wird ihr Getränk in den nächsten 30 Sekunden vom Tisch gefegt werden, das muss ihr doch auffallen, warum fällt ihr das nicht auf, warum fällt MIR das alles auf, warum fällt mir eigentlich irgendwie ALLES auf, was um mich passiert?

Weil ich, wie gesagt, hochsensibel bin. Das ist cool. Aber nicht immer.

Es gibt keinen Hintergrund. Alles ist vorne.

Menschen wie ich, also die, die sich mal gedacht haben, es wäre voll gut, Depressionen zu haben, beziehen ja gerne Dinge mal auf sich, lassen sich Dinge nah und zu Herzen gehen, fühlen sich schnell überfordert mit sich selbst und ihrer Umwelt. Wollen nur alleine sein.
Das ist auch alles cool und schön, und machbar, wenn man nicht noch das Pechglück hat, mit Hypersensibilität gesegnetverflucht zu sein. Es ist angeblich gar nicht so selten, diese Paarung von Depression und Hochsensibilität. Verrückt. Aber man muss lernen, damit umzugehen.

Denn nicht nur meine Eindrücke, auch meine Gedanken sind wenig Filtern unterworfen, und das ist bei der ganzen Kiste das eigentliche Problem. Auch da greifen Filter nicht, und ich mache gern mal die eine oder andere Gedankenebene zu viel auf. Abstrahiere Verhalten und impliziere Absichten.
Ich baue mir einen Sinn, denn den brauche ich, ich muss Dinge krampfhaft verstehen.
Die Depression in mir – die will Dinge vor allem falsch verstehen.

Denken ist toll, zu weit denken nicht so sehr.

Mein filterloses Hirn muss scheinbar ständig überall Kausalzusammenhänge wahrnehmen. Und in Kombination mit Depression sind das eben Kausalzusammenhänge, die ausschließlich gegen mich gerichtet sind. Geile Kombi, sag ich ja.
Stellte ich mir vor, ich hätte lediglich eine Depression, funktionierten meine Filter – dann würde ich mir viele Gedanken gar nicht erst machen, die meine Depression dann pervertieren könnte. Ich wäre immer noch antriebsarm und der festen Überzeugung, die Welt sei mein Feind. Aber diese Überzeugung wäre nicht mehr so furchtbar laut und präsent, so vehement.

Ich kann nichts ausschalten.

Meine Gefühle rauschen ungehindert durch mich durch wie ein Wasserfall, jedes Wort meiner Liebsten rauscht durch mich hindurch und hallt an den Felswänden meines Kopfes wider, jede kleinste Variation von Intonation und Stimmfarbe kann ich spüren. Aber ich kann sie nicht richtig deuten, weil da meine Depression eben dazwischengrätscht und die Interpretation übernimmt.

Als Beispiel: ein Maurer. Meine Depression ist ein Maurer, und der Maurer, der kann nur Mauern bauen. Nur dafür hat er einen Bauplan. Das ist okay – solange man ihm genau eine Wagenladung Steine hinstellt und sagt „sieh zu, das is alles, was du kriegst.
Aber auf meine Baustelle – da fahren keine Lastwagen – sie haben eine Rutsche direkt aus dem Steinbruch vor die Füße des Maurers gebaut. Und der tut das einzige, was er kann. Eine Mauer bauen. So lang, bis keine Steine mehr da sind. Was problematisch wird, wenn der Vorrat eben unbegrenzt ist.

So ungefähr spielt das zusammen. Viel mehr fühlen als zu fühlen sein sollte. Phantomgefühle werden das, Geister, die eigentlich nicht sichtbar, spürbar sein sollten.
Ich habe das allsehende Auge – für Scheiße. Früher habe ich das erfolgreich mit Alkohol geblendet. Da aber permanenter Suff nun auch keine Lösung für irgendwas ist – musste ich lernen, dass ich selber zu viel denke. Und ich muss das immer noch.

Ich sehe zu viel, höre zu viel, spüre zu viel – und ziehe daraus falsche Schlüsse.

Das ist ein wunderbarer Quell der Inspiration, ohne Frage, die Welt anders, direkter sehen zu dürfen als manch anderer Mensch. Zusammenhänge herstellen zu wollen. Am Leben aller teilzunehmen, Stimmungen direkt aufzufangen und aufnehmen zu müssen.
Stimmungen in einem Raum überrollen mich wie eine Flutwelle. Manchmal macht mich das glücklich. Manchmal wirft es mich um. Ich bin in allem direkt da und beteiligt.

Und direkt getroffen.

Denn ich merke schnell, wenn etwas „off“ ist. Wenn etwas nicht stimmt. Ich bin ganz sicher in diesen Momenten. Und erst später begreife ich wieder, dass ich zu viel interpretiert habe. In diese subtile Tonverschiebung in der Stimme, die mir aufgefallen ist. Die aber nichts aussagen sollte. Aber nicht in diesem Moment. Da weiß ich nur ganz sicher, mein Gegenüber „durchschaut“ zu haben. Ein Gefühl, das von der Depression kommt. Die interpretiert jeden verrutschten Tonfall auf diese Art und Weise. Nur eben, dass mir durch die Hypersensibilität gefühlt Zehn mal häufiger diese verrutschten Tonfälle auffallen. Es ist zum verrückt werden. So entsteht Paranoia.

Und dann sage ich mir im Kopf immer wieder: Denk doch nicht so viel. Andere Menschen sind nicht wie du. Sie können die Frequenzen auf denen du zuhörst – die können sie selbst nicht hören. Und wenn sie da nicht hören können – wie sollen sie da verständlich sprechen?
Leider, leider, klappt das viel zu selten.
Und dann bleibt mir nichts, als diesen Ärger zu schlucken. Mir immer wieder einzureden, dass all das was ich sehe, höre, was ich dazudenke und dazufühle, dass das alles nicht so gemeint und gedacht ist von der Welt und den Menschen. Dass ich einfach nur Muster sehe, weil ich mir die Welt erklären muss. Ich muss mir das einreden, damit mein Kopf das nicht vergisst.
Mein Kopf versteht das alles nämlich, wenn man ihn erinnert.

Und der, der kann dann zum Herz sagen
Hey Herz, lass uns später wütend sein. Dann, wenn uns niemand verstehen oder aushalten muss.
Und dann bin ich wütend. Obwohl niemand mir was Böses will.

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