Mein Kumpel und Kollege Tilman Döring ist einer von den Guten. Und einer von den Depressiven. Vor allem aber ist er Autor, und zwar einer von denen, die ich für sehr lesenwert halte. Es ist daher auf eine ganz verquere Art ein Glück, dass Tilman ein kleines Stück Zeit Lebenszeit in einer psychosomatischen Klinik verbracht hat – denn so kann es kommen, dass er davon berichten darf.
Und das tut er auf eine Art und Weise, die mir sehr sympathisch ist, nämlich mit Humor, der immer wieder in etwas sehr unheimliches driftet. Ich habe sein Kliniktagebuch sehr genossen, und ich hoffe, dass ihr das ebenso tut, auch wenn alle Namen geändert wurden. Vielleicht erkennt ihr eigene Erfahrungen – oder, noch besser, lernt etwas.
An dieser Stelle also: Danke, Tilman!
Und euch: viel Spaß!
Kliniktagebuch
Tilman Döring
Do 27.3.2014
10:00: Einweisung
Sitze im Wartezimmer des Elisabethenstifts und warte auf den Aufnahmearzt. Neben mir sitzt Laura. Der Rest des Raums ist voll mit ebenfalls wartenden Alten und Kranken und Alten und Kranken. Gebe mir Mühe möglichst glaubwürdig auszusehen. Ich bin nervös. Laura streichelt mich. Sie war schon immer sehr gut zu mir.
Mein Zustand: Bin auf Tour gewesen. Wie eigentlich immer. Letzte Woche dann den lang ersehnten und aus irgendwelchen autoaggresiven Motiven heraus forcierten Zusammenbruch gehabt. Hals über Kopf einweisen lassen und alle Termine der nächsten vier Wochen abgesagt. Habe mich die Tage bis zu meiner Aufnahme in Darmstadt in meinem Elternhaus eingesperrt. Ein Glück, dass meine Eltern derzeit im Urlaub sind, sonst hätte ich mir das mit dem Zusammenbrechen wohl noch einmal überlegen müssen.
Dann: Meine Ex-Freundin bringt mich ins Krankenhaus. Ich betone: Meine Ex-Freundin! Danke Laura, nichts für ungut – trotzdem! Beschließe im gleichen Moment mich von meiner aktuellen Nichtbeziehung zu einer dieser Nichtfrauen zu trennen, einer sehr tollen Nichtfrau, dennoch eine Nichtfrau, da kann sie noch so toll sein. Stelle fest, dass ich noch ihren Wohnungsschlüssel in meinem Portemonnaie habe. Werde ihn ihr die Tage schicken.
Mein Gepäck:
– Ein Reiserucksack
– Schmutzwäsche
– nur getragene und wirklich stinkende Socken
-3 Bücher
-2 Notizbücher
-1 Kugelschreiber
– Handy inkl. Ladegerät
– keine Pflegeprodukte
Sa 29.3.2014
19:55
Wer schreiben will, muss schreiben. Das ist so einer dieser schlauen Sätze, die man so gesagt bekommt als junger Schriftsteller-Anwärter. Die Schwierigkeit, so heißt es, sei nicht das Schreiben an sich, sondern die Überwindung zu eben diesem. Wir alle kennen dieses Bild des trinkenden und depressiven Schriftstellers nur zu gut und irgendwie hinterlässt es in vielen von uns ein Gefühl der Bewunderung oder schlimmer, der Demut. Ich gebe zu, auch ich habe mich lange Jahre von diesem Bild hinreißen lassen. Ich habe getrunken wie ein Weltmeister und trotz zunehmend verschwimmenden Blicks immer meinen Hemdkragen im Auge behalten. Ich war auch depressiv. Ja, ich war so lange depressiv, bis ich depressiv wurde. Der Tag, an dem ich depressiv wurde, war der selbe Tag, an dem ich lernen musste, dass man als Depressiver gar nicht schreiben kann. Als Depressiver kann man nämlich gar nichts. Also ich nicht. Nicht mal wirklich duschen oder so was. Ich gehe nun einfach mal davon aus, dass ich den gekonnten Leser nicht über die Anstrengungen aufklären muss, die so ein Schreibprozess mit sich führt. Ganz zu schweigen von der Überwindung zu eben solchem. Der Tag, an dem ich depressiv wurde war also der selbe Tag, an dem ich aufhörte mit dem Schreiben anzufangen.
Die Ärztin riet mir, ich solle mir für meinen Aufenthalt kleine und machbare Ziele stecken.
Ziel 1: Anfangen, mit dem Schreiben anzufangen. Mal wieder.
Ziel 2: Trennung zu dieser Nichtfrau nun endlich durchziehen und ihr ihren Schlüssel schicken.
Mo. 31.3.2014
21:50
Maren ist meine erste Freundin hier. Sie ist irgendwas um die 40. Wenn sie redet, dann klingt sie meistens wie ein Kind. Sie hat schrecklich lange Fingernägel, dazu gelbe Fingerkuppen und sie raucht sehr viel. Neben ihren auf mangelndes Sprachvermögen zurückzuführenden Artikulationsproblemen, wirkt sie durchgängig sehr klar. Meistens treffen wir uns im Raucherraum der Station und meistens reden wir auch darüber. Nach drei Tagen des gemeinsamen Rauchens erklärt sie mir, dass sie hier eigentlich gar nicht hingehöre. Sie sei Opfer eines System-Knockouts. Seitdem sie ihren Job als Filialleiterin einer Schleckerfiliale aufgrund des großen Ausverkaufs verloren hat, geht gar nichts mehr. Jeder Amts- und Behördengang läuft ins Leere. Zusätzlich schulde ihr die Versicherung 25.000 Euro. „Das war ein Systemausknocker“, erklärt sie immer wieder.
Genau: Jemand hat ihren Namen in einen Computer eingegeben und sie handlungsunfähig gemacht. Als sie am 23.12.2013 die Polizei anrief, um diese und andere Angelegenheiten zu klären, kamen die Polizeibeamten inklusive eines Krankenwagens bei ihr vorbei. In ihrer Erzählung betont sie (in gleich bleibend ruhiger Tonlage) immer wieder, dass sie hier gar nicht hingehöre. Sie wolle nichts lieber, als einfach wieder arbeiten.
Ich glaube ihr. Beides.
Morgen steht auf unserem Therapieplan:
Zweimal Psychoedukative. Einmal um 9:30 Uhr für die Patienten mit Depressionen und einmal um 16:00 Uhr für die Patienten mit Psychosen. Ich frage die Schwester, ob ich nicht mit Maren tauschen könne. Erkläre ihr, dass man mit einer Psychose viel besser schreiben könne als mit einer Depression und dass eine Depression Maren sicherlich dabei helfe, ihre Sehnsucht nach der Arbeit loszuwerden. Die Schwester nickt verständnisvoll. Tauschen können wir trotzdem nicht.
Gedanke: Die Hauptarbeit des gesamten Personals scheint darin zu bestehen verständnisvoll zu nicken. Das können die alle hier. Will eine Fortbildung und das dann auch machen. *nick
Do 3.4.2014
08:14
Selbst in der Klapse bin ich schlecht im Tagebuch Schreiben. Ärgert mich. Die bisherigen Einträge sind Stuss und schlecht geschrieben, wie nahezu alles, was ich bisher produziert habe. (Habe gelernt, dass ein Denkmuster der Depression die ständige Pauschalisierung ist – ist trotzdem Scheiße!)
Mein Perfektionismus steht mir sogar beim Tagebuch Schreiben im Weg.
Eben Morgenspaziergang gehabt. War gut! Ich bin wach. Zum ersten Mal wie mir scheint. Nehme mir vor, ab jetzt mehr zu lesen und zu schreiben. Frühstück muss ausfallen.
Auf meinem Nachttisch:
– Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (toll)
– J.D. Salinger: Der Fänger im Roggen (unangetastet)
– Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur (sowieso toll)
Herrndorf war auch in der Klapse. Nur hatte der einen Gehirntumor und daraus resultierend eine ausgewachsene Manie. Versuche mir nicht all zu erbärmlich vorzukommen und rede mir ein, dass eine Depression ja auch so etwas wie ein Tumor sei. Der Tumor der Seele! Oder so.
Schäme mich für diesen Gedanken. Herrndorf hätte gelacht, hoffe ich.
20:05
Heute Stress gehabt. Also nicht Stress in dem Sinne, sondern Stress! Danach dann auch Stress in dem Sinne. Bei einer Auseinandersetzung mit Herrn S., einem Mitinsassen, in die offene Konfrontation gegangen. Herr S. macht hier alle auf der Station verrückt. Also nicht verrückt in dem Sinne, sondern verrückt! Anschließend eine Stunde gebraucht, um wieder runter zu kommen. Lesen und Schreiben musste ausfallen. Danke Herr S.! Habe der Schwester in einem Zweiergespräch erklärt, dass Herr S. niemandem auf der Station zumutbar sei und jeden Heilungsprozess behindere. Die Schwester nickt verständnisvoll.
Danach: Streit mit der Psychologin.
Streitpunkt 1:Ich erkläre ihr, dass ich es nicht so gut finde, wenn eine 15-jährige Schulpraktikantin an unserem Gespräch teilnimmt, worauf sie sichtlich pikiert reagiert. Als ich anschließend das Stichwort „Verantwortung“ fallen lasse, ist alles vorbei.
„Wie ist es denn bei Ihnen mit dem Thema Verantwortung?“, fragt sie und versucht mir in den ersten zehn Minuten einzureden, dass meine Eltern anscheinend von Grund auf verantwortungslos gewesen seien.
Was noch fehlte: „Wenn man Sie so sieht.“ Hat sie aber bestimmt gedacht. Muss dringend an meiner Paranoia arbeiten, aber nicht jetzt. Der geht es ja ganz gut wies scheint.
Streitpunkt 2:
Offenbar habe ich mit meiner Fähigkeit zur selbständigen Reflexion ihre Psychologenehre verletzt. Nachdem ich ihr in ziemlich exakt 15 Minuten meine Probleme, deren Ursachen und Auswirkungen strukturiert und in verständlichem Deutsch dargelegt hatte, blieb ihr nur noch zu fragen:
„Ja, und? Was wollen Sie dann jetzt von mir?“
„Ahja….helfen Sie mir!“
„Sie brauchen eine Therapie.“
„Danke.“
Offenbar entnahm sie aus meinen Schilderungen die nötigen Informationen, die nötigen Schlüssel, die ihr halfen, ihre labile Psychologenehre wieder herzustellen und mich gezielt zu reizen. Als ich mich nun, sichtlich verstört, nach dem weiteren Verfahren erkundigte, schien ihre Ehre wieder hergestellt und sie antwortete: “Nächste Woche, wenn sie die Konfrontation ertragen.“
Welche Konfrontation?
Was noch fehlte: „Kopf hoch!“
Hat sie aber bestimmt gedacht.
Danach: Kaffee trinken mit C.. Habe sie gestern spontan in der Stadt nach über einem Jahr wieder getroffen und mich direkt verabredet. Ich wollte mal was von ihr. Gestern irgendwie auch noch. Heute nicht mehr. Mal schauen, wies beim nächsten Mal ist.
Danach: Gespräch mit Sozialarbeiterin gehabt. Sollte um organisatorische Dinge gehen. War besser und therapeutischer als das Gespräch mit der Psychologin. Werde sie fragen, ob sie in Zukunft meine Therapiegespräche führen will. Zur Psychologin nehme ich dann meinen BAFöG-Antrag mit.
Werde in jedem Gespräch gefragt, ob ich bei meinem Ausgang Alkohol getrunken hätte und ob meine „Freunde“, die mich „da immer“ besuchen Drogen mitbrächten. Wenn man mich noch einmal fragt, dann trinke ich wirklich, bevor ich wieder auf Station komme. Esse einen Kaugummi, dann merken die das nie!
Morgen wieder Blutabnahme.
22:32
Herrndorf schreibt:
„Sechs Kohlenstoff, sechs Wasserstoff, sechs Stickstoff, zwei Sauerstoff zu zwei Ringen gebogen: Temolozumid. 5 Tabletten 1189,17 €. Danke AOK. Im Ernst: Ich weiß nicht, wie das Gesundheitssystem ausgesehen hat, bevor alle anfingen, sich zu beschweren, wie sehr runtergerockt es nun sei, aber was dieses System schon in die Errettung einer flackernden Kerze investiert hat, die sich um das Bruttosozialprodukt dieses Landes bisher auch noch nicht so verdient gemacht hatte: erstaunlich.
Danke Staat, danke Gesellschaft, danke, AOK, danke, danke.“
Als Herrndorf dies schrieb war er 45. Wenn ich mir einen Lebensstil eines Mannes vorstelle, der von sich selbst behauptet, er habe sich dem Bruttosozialprodukt dieses Landes nicht so verdient gemacht, so erlaube ich mir die Annahme, in Berücksichtigung auf mein Leben, mir die Freizeitgestaltung dieses Mannes annähernd vorstellen zu können und in Bezug auf meine eigene behaupten zu können: passt!
Nun: ich bin etwa halb so alt wie Herrndorf zu diesem Zeitpunkt war, an dem er dem Bruttosozialprodukt unseres Landes nach eigenen Angaben nicht so zuträglich war. Demnach beschränkt sich mein Verdienst an diesem auf nicht so : 2 (Anm. 2 wird hier als gerundeter Wert angesetzt, um diesen Gedanken nicht unnötig zu verkomplizieren, genau wären es natürlich (45:24) 1,875, demnach nicht so:1,875).
Nicht so: 2 = gar nicht
Genau genommen ein gegen Null strebender Wert, will sagen: Ich schließe mich an!
Fr 4.4.2014
12:23
Nun eine Woche hier. Erste Erfolge bemerkbar: Komme langsam wieder zu mir. Ich dusche jetzt alle 2-3 Tage und putze mir 1x am Tag die Zähne.
1x Wäsche waschen: Check.
Jetzt: Waffeln für die Gruppe backen.
#Fortschritt
13:00
Morgens bis mittags lacht Maren sehr viel.
17:35
In der Bibliothek gewesen für Leserunde morgen. Mal wieder viel zu viele Bücher ausgeliehen. Ertappe mich dabei, mich sogar in meiner Entspannung zu stressen.
18:42
Sitze rum und überarbeite mein Tagebuch, füge Dinge und Einträge hinzu, manchmal denke ich mir aus dramaturgischen Gründen neue Uhrzeiten aus oder datiere um. Warum eigentlich keine Nachteinträge?
Antwort: Die Schlafpillen knallen zu gut!
Sa 5.4.2014
3:42
Da!
6:30
Irgendwas stimmt absolut nicht. Es ist 6:30 Uhr (eine Stunde vor Frühstück), ich bin von alleine wach geworden und ausgeruht. Das ist der erste Tag, an dem ich nicht von den Schwestern geweckt werden musste. Das schlimmste daran: Es ist Wochenende!
Kopf hoch, das wird schon wieder.
Traum: Meine Ex-Freundin Laura ist schwanger – von mir! Sonst hat sich nichts geändert. Sind nach wie vor getrennt und sie nach wie vor mit ihrem Mitbewohner A. zusammen. Das wirklich tolle an dem Traum: Wir arrangieren uns unheimlich erwachsen und alle (ihr Mitbewohner eingeschlossen) freuen sich wahnsinnig auf das Kind. Nach der Geburt liegen Laura und ich zusammen auf dem Krankenbett. Ich erkläre A., dass ich es schön fände, zumindest bei der Geburt das Gefühl haben zu dürfen, so etwas wie eine normale Familie zu haben. A. hat vollstes Verständnis. Alles ist schön! Meine Tochter kann sofort nach der Geburt sprechen, liegt in unserem Arm und quasselt uns das Ohr ab. Meine Tochter, denke ich noch stolz, bevor ich aufwache.
Irgendwas stimmt absolut nicht.
15:33
Heute Abend, circa. 800 Meter von der Klinik entfernt, findet mein Poetry-Slam in der Krone statt.
Stattdessen: Von mir initiierte Leserunde in der Klapse.
Lektüre: Walter Moers: Die 13/1/2 Leben des Käpt’n Blaubär
Anm.: Diesen Eintrag am 4.4. geschrieben, aber wegen anfallendem Krone-Slam und der Leserunde auf morgen vordatiert.
Memo: Wenn es ein Tagebuch sein soll, morgen nochmal schreiben. Danke Memofunktion.
? Leserunde mangels Geduld auf gestern also 4.4. vorverlegt. Mache es dann heute aber trotzdem nochmal.
19:30
Leserunde gestern ist toll gewesen und alle waren begeistert. Heute bei meinem Tagesausflug in die Krone gegangen und bei den Vorbereitungen für den Slam geholfen. Als die Künstler gekommen sind, musste ich zurück. Schlechte Laune, keine Lust mehr auf Leserunde. Komme wieder in der Klinik an und Maren, C., Herr S. und Herr R. sitzen bereits erwartungsvoll im Gruppenraum. Erkläre, dass es mir nicht gut geht und ich sofort schlafen möchte. Alle haben Verständnis. Ich mag die Menschen hier. Wirklich!
Auf meinem Nachttisch einen Zettel von Lukas gefunden. Er ist extra aus München gekommen, um mich zu besuchen. Die Nachtschwester erzählt, er habe sechs Stunden auf mich gewartet. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen. Morgen lade ich ihn zum Tretbootfahren ein. Da freut er sich bestimmt.
So 6.4.2014
14:43
Tagesausflug mit Lukas. Oberwaldhaus. Tretbootfahren.
„Tretbootfahren ist gay“, sagt Lukas.
Erkläre ihm, dass ich das letztens schon einmal mit einem Kumpel gemacht habe und das gar nicht gay finde.
„Okay“, sagt er „aber sich in eine Schlange zu stellen und auf das Tretbootfahren zu warten das ist gay!“
Im Tretboot: Lukas schaut mich komisch an. „Im Tretboot sitzen und schreiben“, sagt er „noch so ein Thema für sich.“ Dann schaut er runter und liest weiter.
Mit Lukas im Tretboot gekabbelt. Okay, das ist gay.
Sind fertig mit Tretbootfahren. Jetzt überlegen wir Minigolf spielen zu gehen. Überlege mir das Wort „Gayspirale“ schützen zu lassen.
Mo 7.4.2014
9:35
Haben seit dem Wochenende eine neue Patientin auf der Station, heute zum ersten Mal mit ihr gesprochen. Sie erzählt, sie sei selbst Therapeutin und beklagt den Umstand, dass Therapeuten sich nicht selbst therapieren können. Wieder was gelernt. Überlege, meiner Psychologin hier auch mal eine Therapie vorzuschlagen. Wie du mir, so ich dir.
Di 8.4.2014
13:18
Bei der Therapeutensuche eine Frau v. Hinüber gefunden. Denke, das passt.
Mi 9.4.2014
14:00
Die Schulpraktikantin ist nun seit knapp eineinhalb Wochen hier. Es geht los. Sie fängt an, freudig erregt über die Station zu hopsen und therapeutische Gespräche zu führen. Über die Frage: „Na, wie geht es Ihnen denn heute?“, ist sie allerdings noch nicht hinaus gekommen. Das mit dem Nicken wird immer besser.
Do 10.4.2014
20:57
Lese meine ersten Einträge noch einmal. Nicke dabei verständnisvoll.
Fr 11.4.2014
14:32
Heute auf Anraten der Sozialarbeiterin einen Termin bei der Suchtberatung der Caritas gehabt. Um das Gespräch nicht von vornherein unangenehm werden zu lassen, versucht sich die Mitarbeiterin der Caritas ein bisschen in Smalltalk und fragt mich, was ich denn beruflich machen würde.
„Ich bin Autor“, entgegne ich. Sie schaut mich an, dann korrigiert sie und meint, ich hätte die Frage falsch verstanden, sie wollte eigentlich wissen, womit ich mein Geld verdienen würde.
Anschließend erklärt sie mir in einem dreiviertelstündigem „Gespräch“, dass es neben stationären Aufenthalten ambulante Suchttherapien und Selbsthilfegruppen gibt und dass Selbsthilfegruppen gar nicht so schlecht seien wie ihr Ruf. Zum Abschied geben wir uns die Hand, ich bedanke mich und frage „haben Sie eigentlich noch einen Beruf?“
„Das hier“, antwortet sie.
Sie hat die Frage nicht verstanden.
21:22
Gerade eben meinen ersten Streit mit Maren gehabt. Im dritten Reich sei vieles besser gewesen, erklärt sie, da seien Menschen nicht, so wie sie, einfach mal so gegen ihren Willen festgehalten worden.
„Was war mit den Juden?“ frage ich.
„Hör auf, mir eine Meinung aufdrängen zu wollen, du klingst ja schon genau wie die Ärzte hier.“
Da haben wir’s, Psychosen machen Nazis. Ich will meine Depression zurück!
So 13.4.2014
18:47
Keine Ahnung, wann ich aufgewacht bin. Keine Ahnung, wie lange ich weg war. Zwei Jahre? Fünf Jahre? Ich weiß es nicht, ich habe geschlafen.
Wobei, geschlafen ist der falsche Ausdruck. Ich war wach. So wach, dass es dem Zustand des Schlafens zum verwechseln ähnlich gewesen ist. Nun, was habe ich gesehen? Ich glaube, alles. Woran ich mich erinnere? Nichts. Diese Wachheit, in der ich mich befand, gleicht einem Traum, der in seine morgendliche Vergessenheit geraten ist. Den man noch bis in den Mittag hinein spürt, und von dem, bis auf ein paar verschwommene Bilder, deren Inhalt man nicht mehr zu deuten weiß, nichts geblieben ist. Nichts außer diesem unbefriedigendem,leeren Wissen darüber.
Was ich weiß: dass ich wach war. Mehr nicht. Ich war weg. Unterwegs. Irgendwo, zwischen den Gleisen, muss mir meine Erinnerung abhanden gekommen sein.
Manchmal, wenn ich jetzt so daliege, dann stelle ich mir vor, wie meine Erinnerung an irgendeinem Bahndamm liegt. Zwischen Bierdosen, Steinen und Unkraut, das um sein Überleben kämpft, liegt sie da, und immer, wenn ein Zug an ihr vorbeirollt, wird sie in die Luft geweht. Wie eine leere Plastiktüte flattert sie dann für einen kurzen Augenblick in eine unbestimmte Richtung, bis sie letztendlich wieder zum Erliegen kommt und auf den nächsten Windstoß wartet.
Sie zu suchen, wäre ein wohl trostloses Unterfangen, das eine noch größere, nie dagewesene Wachheit erfordern würde, deren Erleben wohl einem unendlichen Schlaf gleichkäme.
Di 15.4.2014
13:25
Habe Küchendienst und bereite den Mittagstisch vor. Auf der Nachbarstation bringt sich ein achtzehnjähriger in seiner Dusche um. Ich wische den Tisch sauber und räume die Spülmaschine aus. Auf der Nachbarstation hat sich ein achtzehnjähriger in seiner Dusche umgebracht. Ich gehe auf die Toilette und eine Schwester erklärt mir, ich dürfe derzeit das Gebäude nicht über den Hauptflur verlassen. Frage nicht weiter nach, hatte sowieso nicht vor, das Gebäude noch einmal zu verlassen. Denke darüber nach, ob ich meine Socken heute nochmal waschen soll, entscheide mich aber dagegen. Auf der Nachbarstation wird ein achtzehnjähriger für tot erklärt. Die Schwestern rufen uns zusammen. Wir sollen uns im Gruppenraum treffen. Der Oberarzt betritt den Gruppenraum und berichtet über den Vorfall. Er wirkt angestrengt empathisch. Es klingt wie eine Nachrichtendurchsage. Ich habe ihn nie gesehen, ich kannte ihn nicht, ich habe nicht einmal die Notärzte mitbekommen, ich fühle nichts. Nach einer Minute betretenen Schweigens kommen alle wieder zu sich. Es wird über die allgemeinen Zustände auf der Station diskutiert. Der Oberarzt erklärt, dass man in einem Krankenhaus nie vor solchen Situationen geschützt sei und dass es nun um so wichtiger sei, nach vorne zu schauen und seine eigene Gesundheit im Auge zu behalten. Als Herr S. daraufhin anfängt, über den Brötchenbestand des Frühstücksbuffets zu lamentieren, stehe ich auf und verlasse den Raum. Ich muss nun wirklich auf meine eigene Gesundheit achten.
Do 19.4.2014
10:00
Entlassung: Danke, sage ich, bis zum nächsten Mal.
Die Schwester nickt verständnislos.
13:35
Auf dem Zettel der Ärztin steht: F32.1 mit Tendenz zu F32.2, wie die Ärztin mir versicherte.
Seine Depression diagnostiziert zu bekommen fühlt sich gleich viel besser an.
14:47
Habe den Fehler gemacht meine Diagnosen zu googeln. Wo ist mein Telefon?
Nachtrag:
Die Nichtfrau schrieb mir heute. Sie möchte ihren Schlüssel wieder haben. Nehme mir vor, ihn ihr gleich morgen zu schicken.