Project Semicolon. Menschen tätowieren sich ein Semikolon, um mitzuteilen, dass sie an einem Punkt waren, ihr Leben zu beenden – und sich dagegen entschieden. Ist das mutig – oder Koketterie mit einem vermeintlich hippen Schicksal?
Ich will hier nicht werten. Wenig werten. Nur ein paar Fragen stellen zu diesem Zeichen – und warum man es trägt. Denn jedes uniformierte Zeichen erhält seine Bedeutung durch die Träger und diejenigen, die damit konfrontiert werden. Ich möchte niemanden an die Wand stellen – nur einen Diskurs anregen. Das als Bemerkung vorneweg.
So. Das Semikolon also. Warum trägst du es? Was bedeutet es für dich?
Es kann bedeuten, dass du stolz bist auf dich. Dass du stark bist. Dass du etwas bezwungen hast. Und all das ist großartig. Um Himmelswillen, es ist so großartig, schreib es dir millionenfach auf deinen Körper. Wenn du es für dich tust.
Aber was, wenn du es nicht nur für dich tust? Trägst du deine Krankheit für andere Menschen nach außen?
Ich zum Beispiel tue das. Ich habe kein Semikolon – aber dieses Blog. Ich habe festgestellt, dass ich mit dieser Sache hier, offensiv mit meiner Depression umzugehen, positive Dinge bewirken kann. Ich scheine einigen Dingen Worte geben zu können. Dinge erklären zu können. Und deshalb tue ich das. Ich kann damit umgehen, etwas öffentlicher depressiv zu sein. Das ist kein Ausnahmetalent, aber durch viele sehr glückliche und viele sehr unglückliche Begebenheiten sitze ich heute hier an meinem Rechner und darf anderen Menschen meine Depression beschreiben. Ich habe das Gefühl, etwas konstruktives beizutragen zur Wahrnehmung dieser Krankheit. Deshalb tue ich das. Das bringt auch Gegenwind. Verständlich. Aber auch damit kann ich umgehen. Meist.
Wenn du nun dieses Semikolon trägst, um deine Krankheit und deine Geschichte nach außen zu tragen, weshalb tust du das? Hast du einen konstruktiven Grund? Du konfrontierst die Menschen in deinem Umfeld mit einem sehr harschen Thema – dem freiwilligen Ende deines eigenen Lebens, welches mal zur Debatte stand. Warum kommunizierst du das?
Das sind keine rhetorischen Fragen. Das sind Fragen für dich, die nur du allein beantworten kannst.
Oder trägst du vielleicht das Semikolon, weil es viel lauter schreien kann als es die Luft in deinen Lungen zulässt? Weißt du nicht anders zu erzählen, dass mit dir irgendetwas schief läuft, dass es dir nicht gut geht, du dich alleine fühlst und falsch und ungeliebt oder nichts von alledem? Ist dir nicht klar ob du depressiv bist oder irgendetwas anderes, was dein Leben unlebbar scheinen lässt? Trägst du es, damit dich endlich jemand fragt, wie es dir geht, was mit dir los ist?
Auch dies – keine rhetorischen Fragen. Ich kann das verstehen. Aber ist es der beste Weg für dich?
Oder trägst du das Semikolon, weil du dazugehören willst? Weil du nachdenklich bist und düster. Weil du deep wirken willst und interessant? Weil du schweigsam bist und in dich gekehrt? Hier statt einer Frage eine Aussage: Das alles hat nichts mit Depression zu tun. Depression ist kein nachdenklich sein über die Welt oder an ihr verzweifeln. Depression ist verzweifeln allerhöchstens an sich selbst. Depression ist nicht romantisch. Kein Lifestyle. Und das Semikolon kein Stempel für diesen coolen Undergroundclub in den die hippen Kids gehen. Bitte, lass das Semikolon nicht zum Arschgeweih der selbsternannten Außenseiter werden.
Ein Semikolon birgt Verantwortung
Das Semikolon stellt ein Thema in den Raum. Und zwar einseitig. Suizid. Depression. Es lässt einem Gegenüber keine Wahl. Das gibt Macht und Souveränität – aber damit muss man umgehen können. Man muss damit positiv umgehen wollen. Konstruktiv. Sonst ist es keine Debatte, die du entfachst, und auch kein Hilfeschrei, sonst ist es nur ein Brandmal, welches du dir selbst verpasst hast, um Mitleid zu erpressen. Und Mitleid – bedeutet Leid für andere. Das sagt schon das Wort.
Es geht nicht, und bitte versteh mich hier nicht falsch, es geht nicht darum, dass du dir kein Mitgefühl erhoffen darfst. Du darfst und sollst. Aber es sollte nicht dein Motiv sein.
Wir alle definieren unsere Zeichen.
Soll das Semikolon für Stärke stehen, für Positives? Für eine Debatte? Für Verständnis und Akzeptanz? Für Schonung? Mitleid? Für Depression als Lifestyle-Accessoire?
Keine Ahnung. Ich schätze, das liegt jetzt an uns allen.