Letzten Sonntag bin ich einen Berg runtergefallen. Keine Metapher.
Das tat gut. Weil ICH da runtergefallen bin.

Früher habe ich Tageswanderungen immer für extrem spießige Verschwendung von Lebenszeit gehalten. Ich meine…man fährt irgendwo hin…und geht dann das letzte Stück.
Das erschien mir unsinnig. Und vor allem: lahm.

Das hat sich geändert. Natur fetzt. Hätte ich nie gedacht, sowas mal in der Öffentlichkeit von mir zu geben, ich olles Asphaltkind, aber was soll ich sagen – nur meine Schritte auf morschem Holz und Wanderwegen – is lange her, dass mein Kopf so bei mir und nirgendwo sonst war. Pluspunkt dafür. Endlich weiß ich, was die Leute meinen, wenn sie einem nahelegen, mal nach draußen, vor die Tür zu gehen.

„Zum Kiosk“ ist nicht „nach draußen“.

Man kann mal 33 Jahre für so ne Erkenntnis benötigen. Muss man aber nicht. Darum schreib ich´s hier mal. Draußen ist fern des Alltags. Draußen ist woanders. Draußen ist wirklich „draußen“, außen vor. Weg. Fort.

Und so saß ich also auf einer kleinen Bank, irgendwo im Sauerland, mit dieser coolen Sau an meiner Seite auf einem Hügel. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, überkam mich dieses unbändige Verlangen, die Arme weit auszustrecken und loszulaufen. Einfach so. Bergab. Beschleunigung.

Also, zack, Jacke aus, ich sage noch irgendwas wie „Wir sehen uns in der Hölle„, oder vielleicht auch nur „warte mal kurz„, und laufe los.

Meine Beine tragen mich.

Das spüre ich auf den ersten Schritten. Ich gehe nicht auf ihnen. Sie tragen mich. Und meine ganzen dunklen Gedanken, jeden Tag. Sie tragen meine Trauer und Wut und die Zweifel mit mir gemeinsam durch meine Tage. Und jetzt, da ich sie fast wie von selbst bergab laufen lasse – fühlen sie sich frei. Gravitationsbeschleunigt wird das Gewicht unspürbar. Nicht mehr ausreichend Bremsmasse in mir selbst. Ich bin ein Kind, welches unbelastet spielt und springt. Wie lange nicht mehr. Ich will dreckig sein. Und unvernünftig. Lebendig sein.

Ich will fallen. Und fliegen.

Kontrollierter Kontrollverlust.

Der Gedanke kommt von selbst. Du solltest jetzt hinfallen. Gib dich dem hin. Du möchtest taumeln und der Welt beim Überschlag zusehen. Und dann denke ich nicht mehr nach – sondern lasse mich fallen. Stolpere vollends bewusst nach vorn, sehe den Boden kommen, drehe mich wie gelernt zur Seite. Aufschlag. Dumpf. Spüre die Schulter. Den Rücken. Den Arm. Den Bauch. Noch ein Arm. Rücken. Meine Beine sind Spaghetti und Luftballons im Wind. Wirbeln umher wie angeschraubt und unverbunden. Meine Finger graben sich durch Gras und Erde. Es wird schwarz, dann wieder blau, während die Welt an mir vorbeigedreht wird.

Ich bin. Ich bin im HIER und JETZT in dem Moment. Während ich diesen Hügel herab rolle ist mir zum einen klar, dass ich ein Stück Kontrolle abgebe. Zum anderen aber auch, dass ich meinen Körper seit Jahren nicht mehr so intensiv wahrgenommen und gefühlt habe.
Klar, man steht und geht und sitzt den lieben langen Tag – und man fühlt, wenn man sich stößt. Aber jede kleine Faser und Oberfläche über Waldboden und durch die Luft wirbeln zu lassen – reduziert mich auf meinen Körper allein. Es ist schwierig zu beschreiben. Es ist anders. Mein Geist bleibt außen vor. Und es ist großartig.
Kontrolle abzugeben und sich fallen zu lassen – ist wie eine dieser Vertrauensübungen, bei welchen man sich in die Arme seines Gegenübers fallen lassen darf – nur hier eben – mit mir selbst.

Ich lasse mich in meine eigenen Arme fallen. Und fange mich.

Selbstvertrauen – ich misstraue meinem Körper nicht mehr. Er ist noch da. Und er fühlt, genau wie ich. Er ist nicht tot oder ein Mittel zum Zweck, etwas, in dem ich lebe.
Er ist ein Teil von mir.
Und ich vertraue ihm wieder.
Obwohl mir mein Misstrauen vorher nicht bewusst war.

Gute Sache, das mit dem Kind-sein. Schmutzig werden. Sollte ich öfter machen.
Fühlt sich lebendig an.

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